Singapur und Shanghai erproben, was die EU noch plant: vollständig digitales Corporate KYC über Landesgrenzen hinweg – ohne Apostille, ohne Papier, ohne physische Präsenz.


Während in Europa die Diskussion um die EUDI-Wallet noch zwischen technischen Spezifikationen und regulatorischen Grundsatzfragen pendelt, schaffen Singapur und Shanghai Fakten. Der im Frühjahr 2025 lancierte Korridor erlaubt es bestimmten singapurischen Unternehmen, eine Gesellschaft in Shanghai vollständig digital zu gründen. Keine beglaubigten Dokumente per Post, keine notarielle Präsenz vor Ort. Die Identität der Unterzeichner und ihre Vertretungsbefugnis werden über Singapurs digitale Infrastruktur – Singpass für natürliche Personen, Corppass für Unternehmen – als W3C-konforme Verifiable Credentials nach Shanghai übertragen und dort von den zuständigen Registern anerkannt.

Das technische Fundament bildet eine bilaterale Digital Trust Platform, die gemeinsam mit der Shanghai Electronic Certification Authority betrieben wird. Die Architektur kombiniert klassische PKI-Strukturen mit den neueren Credential-Formaten, die sich international als Standard für portable digitale Nachweise etablieren. Der eigentliche Aufwand liegt weniger in der Technik als in der rechtlichen Übersetzungsarbeit: Zwei fundamental unterschiedliche Rechtssysteme müssen ihre jeweiligen Anforderungen an Identitätsnachweis, Vollmacht und Registereintragung so aufeinander abbilden, dass beide Seiten das Ergebnis als verbindlich anerkennen können.

Der Korridor baut auf Vorarbeiten auf. Ein früherer Pilot zwischen der Singapore Academy of Law und der Infocomm Media Development Authority hatte bereits demonstriert, dass sich Legalisations- und Apostille-Prozesse über Verifiable Credentials digitalisieren lassen.

Zur Einordnung: Die Apostille ist ein 1961 durch die Haager Konvention eingeführtes Beglaubigungsverfahren, das die internationale Anerkennung öffentlicher Urkunden vereinfacht. Ein standardisierter Stempel ersetzt die früher übliche aufwendige Beglaubigungskette über mehrere Behörden und Konsulate. Zwischen den über 120 Vertragsstaaten wird eine Urkunde mit Apostille direkt anerkannt. Die e-Apostille überführt diesen physischen Stempel nun in ein digitales Credential – und macht den Postweg überflüssig. Was als Machbarkeitsstudie für einzelne Dokumente begann, wird nun auf den gesamten Gründungsprozess ausgedehnt.

Was dieses Projekt interessant macht, ist weniger die einzelne Anwendung als das strukturelle Muster. Shanghai und Singapur zeigen, dass bilaterale Vertrauensrahmen ohne supranationale Instanz funktionieren können – jedenfalls zwischen zwei Jurisdiktionen, die beide ein starkes Eigeninteresse an reibungslosem Kapitalverkehr haben und deren Verwaltungen technisch hinreichend ausgereift sind. Die Frage ist, ob sich dieses Muster skalieren lässt.

Gelingt der operative Betrieb stabil, liegt die Übertragung auf andere Anwendungsfälle nahe: Bank-Onboarding für ausländische Firmenkunden, Trade-Finance-Dokumentation, Kapitalmarktzugang. Digitale Identität würde dann von einer nationalen Komfortfunktion – elektronischer Personalausweis, vereinfachte Behördengänge – zur kritischen Infrastruktur für internationale Geschäftsbeziehungen. Das ist ein erheblicher Bedeutungssprung.

Für die europäische Debatte liefert der Korridor empirisches Material. Die EU verfolgt mit der EUDI-Wallet einen supranationalen Ansatz: ein gemeinsamer Rechtsrahmen, harmonisierte technische Standards, zentrale Governance. Singapur und China demonstrieren die Alternative – bilaterale Abkommen zwischen technisch und regulatorisch kompatiblen Partnern, die ihre jeweilige Souveränität vollständig behalten. Beide Wege haben Vor- und Nachteile. Der supranationale Ansatz verspricht Skaleneffekte, kämpft aber mit der Komplexität von 27 Mitgliedstaaten. Der bilaterale Ansatz ist schneller umsetzbar, erfordert aber für jede neue Partnerschaft erneuten Verhandlungs- und Integrationsaufwand.

Was bleibt, ist ein nüchterner Befund: Die technischen Grundlagen für grenzüberschreitendes Corporate KYC existieren. Die Frage ist nicht mehr, ob es geht, sondern wer die Standards setzt und welche Governance-Modelle sich durchsetzen. Shanghai und Singapur haben einen Pflock eingeschlagen.


Quelle:

Shanghai-Singapore Cross-Border Digital Identity Enables Fully Online Company Setup