Die EU verpflichtet ihre Mitgliedstaaten, bis Ende 2026 digitale Identitäts-Wallets bereitzustellen. Doch zwischen politischem Zeitplan und technischer Realität klafft eine Lücke, die an frühere europäische Digitalprojekte erinnert. Eine Bestandsaufnahme.


Die Europäische Union hat sich ein ambitioniertes Ziel gesetzt: Bis Ende 2026 sollen alle Mitgliedstaaten ihren Bürgern eine digitale Identitäts-Wallet zur Verfügung stellen. Ab Mitte 2027 müssen Unternehmen diese akzeptieren. Was auf dem Papier nach einem koordinierten europäischen Digitalisierungsschub aussieht, erweist sich bei näherer Betrachtung als Vorhaben mit erheblichen Umsetzungsrisiken[1]Will the EUDI Wallet be ready in 2026? Experts say probably not.

Ungleiche Ausgangsbedingungen

Die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten sind beträchtlich. Während Deutschland eine robuste Erstversion mit Kernfunktionen wie Personalausweisdaten anstrebt, hat Bulgarien mangels gesetzlicher Grundlagen noch nicht einmal mit der Regierungsarbeit begonnen. Die Niederlande werden den Termin nach eigener Einschätzung verfehlen. Malta verfügt zwar über ein Produkt, das jedoch nicht vollständig funktionsfähig ist. Spanien kämpft mit der Integration bestehender Altsysteme.

Diese Heterogenität ist kein Zufall, sondern Ausdruck unterschiedlicher administrativer Kapazitäten, digitaler Reifegrade und politischer Prioritäten. Die EU-Verordnung schafft einen einheitlichen rechtlichen Rahmen, kann aber die operativen Voraussetzungen in den einzelnen Ländern nicht per Dekret herstellen.

Technische Unwägbarkeiten

Zu den nationalen Unterschieden kommen technische Hürden auf europäischer Ebene. Das Architecture and Reference Framework, das als gemeinsame Grundlage dienen soll, ist noch nicht abgeschlossen. Die Zertifizierungsanforderungen sind komplex, die Standards entwickeln sich weiter.

Für Länder, die ihre Implementierung auf diese Vorgaben abstimmen müssen, entstehen Planungsunsicherheiten.

Richard Esplin von Dock Labs prognostiziert einen gestaffelten Rollout mit ungleichmäßiger Bereitschaft. Signicat rechnet bis 2026 mit 30 bis 50 verschiedenen Wallet-Lösungen, die jedoch nicht vollständig interoperabel sein werden. Irene Hernandez von Gataca weist darauf hin, dass Pilotprojekte zwar laufen, der Übergang in den Produktivbetrieb aber eine andere Größenordnung darstellt.

Strukturelle Muster

Die Konstellation erinnert an frühere europäische Digitalvorhaben. Bei Gaia-X sollte eine souveräne europäische Cloud-Infrastruktur entstehen; das Ergebnis blieb hinter den Erwartungen zurück. Catena-X verfolgt ähnliche Ziele für die Automobilindustrie mit ähnlichen Koordinationsproblemen. In beiden Fällen trafen politische Ambitionen auf die Realität fragmentierter Zuständigkeiten und divergierender nationaler Interessen.

Das Grundproblem ist struktureller Natur: Netzwerkeffekte und Plattformökonomie erfordern schnelle, iterative Entwicklung und kritische Masse. Europäische Governance-Strukturen sind hingegen auf Konsensbildung, rechtliche Absicherung und nationale Souveränität ausgelegt. Diese Logiken stehen in einem Spannungsverhältnis, das sich nicht durch ambitioniertere Zeitpläne auflösen lässt.

Private Anbieter als Lückenfüller

Bezeichnend ist die wachsende Rolle privater Unternehmen. In Bulgarien steht mit Evrotrust ein privater Anbieter bereit, während die Regierung noch auf die gesetzlichen Grundlagen wartet. In Spanien arbeitet Gataca an der Integration mit bestehenden Systemen. Diese Arbeitsteilung mag pragmatisch sein, wirft aber Fragen auf: Wenn staatliche Stellen die technische Kompetenz für digitale Identitätssysteme nicht selbst aufbringen, werden sie zu Auftraggebern von Lösungen, die sie nur begrenzt verstehen und kontrollieren können.

Ausblick

Realistisch betrachtet werden bis Ende 2026 einige Mitgliedstaaten funktionsfähige Wallet-Lösungen anbieten, andere nicht. Die vollständige Interoperabilität, die den eigentlichen Mehrwert eines europäischen Systems ausmachen würde, erfordert grenzüberschreitende Tests und die Koordination hochsicherer Berechtigungsnachweise. Das wird Zeit brauchen, die über den politisch gesetzten Zeitrahmen weit hinausgeht.

Die EUDI-Wallet ist damit nicht gescheitert, aber sie folgt dem bekannten Muster europäischer Digitalprojekte: Der Abstand zwischen Ankündigung und vollständiger Umsetzung ist größer, als die offiziellen Zeitpläne suggerieren. Für Unternehmen und Bürger bedeutet das vor allem eines: Geduld.