Die europäische digitale Identitätsbrieftasche soll 2026 kommen. Die Bilanz der Pilotphase offenbart mehr Probleme als Fortschritt.
Das POTENTIAL-Konsortium hat die Ergebnisse seiner zweieinhalbjährigen Pilotphase zur europäischen digitalen Identitätsbrieftasche (EUDI Wallet) vorgelegt[1]EUDI Wallet needs common standards applied rigorously, POTENTIAL pilot finds. Die Präsentation folgt dem bekannten Muster europäischer Digitalprojekte: Viele Beteiligte, ambitionierte Rhetorik – und bei genauerer Betrachtung ernüchternde Zahlen.
Die Arithmetik des Scheiterns
140 Organisationen aus 20 Ländern. 30 Monate Projektlaufzeit. Sechs Anwendungsfälle. Das Ergebnis: 1.000 „erfolgreiche Transaktionen”, davon 249 grenzüberschreitend. Umgerechnet bedeutet das weniger als eine grenzüberschreitende Transaktion pro Woche und Teilnehmerland. Zum Vergleich: Apple Pay verarbeitete bereits 2019 rund eine Milliarde Transaktionen monatlich.
Die zentrale „Erkenntnis” des Konsortiums lautet, dass grenzüberschreitende Interoperabilität entscheidend sei und einheitliche Standards benötigt würden. Nach zweieinhalb Jahren und mit Beteiligung von Unternehmen wie Thales und Amadeus ist dies keine Erkenntnis, sondern die Wiederholung der Ausgangshypothese.
Das bekannte Muster
Aufschlussreicher als die offiziellen Erfolgsmeldungen sind die eingestreuten Einschränkungen: Länder mit „starker nationaler Koordination und frühzeitiger Einbindung des privaten Sektors” seien schneller vorangekommen. Im Umkehrschluss heißt das: Die Mehrheit der Teilnehmerländer verfügt über keine starke Koordination. Mehrere kleinere Mitgliedstaaten benötigten „weiterhin EU-Unterstützung”, um überhaupt mitzuhalten.
Die Empfehlung nach „umfassenden EU-weiten Konformitätstests” nach Abschluss einer Pilotphase wirft die Frage auf, was in den vergangenen 30 Monaten eigentlich getestet wurde, wenn grundlegende Interoperabilität erst noch herzustellen ist.
Vertrauen durch Behauptung
Das Konsortium betont die Bedeutung von „einfachen, transparenten und datenschutzfreundlichen” Wallets für das Bürgervertrauen. Belege für tatsächliches Nutzerverhalten oder Akzeptanzstudien fehlen in der Kommunikation. Die Formulierung deutet eher auf einen Wunschkatalog als auf empirisch validierte Erkenntnisse hin.
Der angekündigte öffentliche Zugang ab 2026 folgt dem etablierten Muster europäischer Digitalvorhaben: Der Zeithorizont ist nah genug, um Handlungsfähigkeit zu suggerieren, und fern genug, um bei Verzögerungen Spielraum zu lassen. Die parallel initiierten „neuen Großversuche” legen nahe, dass auch intern Zweifel an der Reife des Systems bestehen.
Strukturelles Problem
Die EUDI-Wallet steht exemplarisch für das europäische Dilemma digitaler Souveränität: Man definiert ambitionierte Ziele, schafft komplexe Konsortialstrukturen, produziert beeindruckende Teilnehmerzahlen – und liefert am Ende Ergebnisse, die hinter jeder kommerziellen Markteinführung zurückbleiben.
Die eigentliche Frage ist nicht, ob Europa technisch in der Lage ist, eine digitale Wallet zu entwickeln. Die Frage ist, ob ein System, das bereits in der kontrollierten Pilotumgebung mit 140 handverlesenen Partnern nur 249 grenzüberschreitende Transaktionen zustande bringt, im offenen Markt gegen etablierte Lösungen bestehen kann, die längst funktionieren.
References
