Im Zeitalter der künstlichen Intelligenz verschwimmen die Grenzen zwischen unserem realen und unserem digitalen Selbst. Der Artikel „Data Selves and Identity Theft in the Age of AI“ von Tim Gorichanaz geht dieser Entwicklung auf den Grund – und zeigt, wie eng Identitätsdiebstahl, KI und die Architektur unserer digitalen Welt miteinander verflochten sind.
Identität war einst etwas Körperliches: ein Ausweis, eine Unterschrift, eine Stimme. Heute besteht sie zunehmend aus Datenpunkten – verstreut, aggregiert, analysiert. Tim Gorichanaz nennt diese digitalen Abbilder data selves: Projektionen unserer selbst, erzeugt durch alltägliche Interaktionen mit Technologie. Jeder Klick, jeder Standort, jedes Herzfrequenzsignal fügt sich zu einem digitalen Selbstbild zusammen – ein Spiegelbild, das uns repräsentiert, aber zugleich verselbständigt ist.
Neben diesem data self existiert das, was Gorichanaz data double nennt – ein algorithmisch erzeugtes Profil, das nicht von uns, sondern über uns erstellt wird. Es ist das Produkt ökonomischer Interessen: Werbeplattformen, Versicherungen oder Kreditinstitute nutzen es, um unser Verhalten vorherzusagen und zu steuern. Während das data self auf Selbstvermessung und Kontrolle zielt, steht das data double für Entfremdung und Machtasymmetrie.
Wenn KI Identität stiehlt
Identitätsdiebstahl war früher eine Frage gestohlener Dokumente oder kompromittierter Passwörter. Heute geht es um ganze Identitätslandschaften. KI hat die Mechanismen des Diebstahls automatisiert und verfeinert: Deepfakes erzeugen täuschend echte Gesichter und Stimmen; neuronale Netzwerke durchsuchen Datenbanken nach Schwachstellen; social engineering wird durch personalisierte KI-Interaktionen perfektioniert.
Doch KI ist nicht nur Täterin, sondern auch Ermittlerin. Dieselben Technologien, die Deepfakes generieren, können sie auch erkennen. Betrugserkennungssysteme nutzen Musteranalyse, um Anomalien in Transaktionen oder Kommunikationsmustern aufzudecken. Gorichanaz zeigt damit die doppelte Rolle der KI – als Verstärker und potenzieller Wächter digitaler Sicherheit.
Architektur statt App: Das strukturelle Problem
Identitätsdiebstahl, so Gorichanaz, ist kein individuelles Versagen, sondern ein architektonisches Problem. Unsere digitalen Infrastrukturen wurden nicht mit dem Ziel gebaut, Identität zu schützen, sondern um Daten zu extrahieren. Der Schutz des Individuums kann daher nicht allein in technischer Abwehr liegen, sondern erfordert eine Neugestaltung der digitalen Architektur selbst – durch Regulierung, Transparenz und neue ethische Rahmenwerke.
Blockchain-Technologien oder dezentrale Identitätslösungen könnten hier neue Wege eröffnen: Sie versprechen Kontrolle über die eigene digitale Identität, ohne auf zentrale Datensilos angewiesen zu sein. Gleichzeitig warnt Gorichanaz vor den Schattenseiten – synthetische Identitäten, erschaffen durch KI, könnten ebenso leicht für Betrug missbraucht werden.
Fazit: Zwischen Autonomie und Algorithmus
Der Essay von Tim Gorichanaz öffnet einen Blick auf die Zukunft der Identität im Zeitalter der KI – eine Zukunft, in der unser digitales Selbst nicht nur erweitert, sondern auch gefährdet wird. Die entscheidende Frage lautet nicht mehr, ob Identität digital ist, sondern wer sie kontrolliert.
Echte Sicherheit, so lässt sich der Kern seiner Argumentation zusammenfassen, entsteht nicht aus perfekter Technologie, sondern aus einer bewussten, strukturell verankerten Verantwortung: gegenüber dem Individuum, der Gesellschaft – und der Idee von Identität selbst.