Den meisten Staaten in Westafrika fehlen verlässliche Daten über die Anzahl und Herkunft der innerhalb ihrer Grenzen lebenden Migranten. Die Machthaber nutzen diese Unklarheit oft aus, um ihre eigene Machtposition zu festigen. Biometrische ID-Technologien spielen in diesem Prozess eine Schlüsselrolle, da sie die Teilnahme an Wahlen auch ohne Staatsbürgerschaft ermöglichen. Das zeigt eine Fallstudie am Beispiel Nigerias, die Prof. Dr. Martin Doevenspeck von der Universität Bayreuth und Prof. Dr. Victor Chidubem Iwuoha von der University of Nigeria in der Zeitschrift “Territory, Politics, Governance” veröffentlicht haben.
Die beiden Wissenschaftler sammelten von November 2021 bis Juni 2022 umfangreiche Forschungsdaten in vier nigerianischen Großstädten: Abuja im Norden, Lagos im Westen sowie Enugu und Aba im Osten. Interviews und Gespräche mit Migranten aus den Nachbarländern Tschad, Niger, Benin und Togo sowie andere Methoden der empirischen Feldforschung ermöglichten Einblicke aus erster Hand in den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Status von dauerhaften und temporären Migranten in Nigeria. Darüber hinaus wurden Zeitschriftenartikel, Radio- und Fernsehberichte, Internetportale und Berichte von Organisationen, die sich mit Migrationspolitik beschäftigen, ausgewertet.
Personalausweise mit eingebautem Mikroprozessor
In Nigeria müssen sich alle im Land lebenden Personen offiziell registrieren lassen. Zu diesem Zweck wurde eine nationale e-ID-Karte geschaffen: Dabei handelt es sich um einen individuellen Personalausweis mit eingebautem Mikroprozessor, der eine nationale Identifikationsnummer (NIN) enthält und persönliche Informationen sowie biometrische Daten, insbesondere Fingerabdrücke, speichert. Alle Daten werden gleichzeitig in der nationalen Identitätsdatenbank (NIDB) gespeichert. Jeder, der seinen Wohnsitz in Nigeria hat, mit oder ohne nigerianische Staatsbürgerschaft, ist berechtigt, diese Form der digitalen biometrischen Registrierung ohne Einschränkungen zu nutzen. Eine nationale e-ID-Karte ist jedoch bereits eine ausreichende Voraussetzung für die Teilnahme an Wahlen. Denn sie berechtigt zur Ausstellung einer dauerhaft gültigen Wählerkarte, die wiederum die Stimmabgabe bei allen zukünftigen Wahlen in Nigeria ermöglicht.
Wahlteilnahme ohne Staatsbürgerschaftsrechte
Die Verknüpfung des uneingeschränkten Zugangs zur biometrischen Registrierung mit der Teilnahme an Wahlen widerspricht der nigerianischen Verfassung, die das Wahlrecht an die Staatsbürgerschaft knüpfen will. Der hohe Anteil an Migranten führt somit zu einem enormen Anstieg der Zahl der Wahlberechtigten. Die Studie beschreibt die Vor- und Nachteile dieser Konstellation: Die Migranten sehen sich als potenzielle Wähler, die von den politischen Eliten des Landes umworben werden. Sie fühlen sich in ihrer Zugehörigkeit zum nigerianischen Staat gestärkt und können den politischen Kurs ihres Landes beeinflussen. Gleichzeitig verfügen sie jedoch nicht über die in der Verfassung vorgesehenen Staatsbürgerrechte und Reisedokumente, was ihre Möglichkeiten einschränkt, aus wirtschaftlichen oder sozialen Gründen in andere Länder zu reisen. Diese “Immobilisierung” wiederum ist unvereinbar mit der Freizügigkeit zwischen den Staaten, zu der sich die Mitgliedsstaaten der Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (ECOWAS) – darunter auch Nigeria – bereits 1979 verpflichtet hatten.
Die Machthaber wiederum nutzen diese paradoxe Situation aus, um ihre Machtposition zu festigen: Sie sehen in den Migranten, die oft in prekären Verhältnissen leben, eine attraktive Klientel, die sich auch mit Hilfe von Wahlgeschenken leicht mobilisieren und zur Stimmabgabe bewegen lässt. Es kommt sogar vor, dass die Regierung zusätzliche Wählerkarten an Migranten verteilt, was zu Mehrfachwahlen und damit zu Wahlmanipulationen führt.
Instrumentalisierung der Migration in Westafrika
“Unsere Studie liefert ein Beispiel dafür, wie die in Westafrika stark ausgeprägte Migration oft von den Machthabern zu ihrem eigenen Vorteil instrumentalisiert wird. Die Digitalisierung hat nicht nur in Nigeria, sondern auch in anderen westafrikanischen Ländern biometrische Ausweissysteme ermöglicht, die neue nationale Zugehörigkeiten konstruieren und damit die Funktion der Staatsbürgerschaft als Grundlage der nationalen Identität entwerten”, sagt Prof. Dr. Martin Doevenspeck, der am Geographischen Institut der Universität Bayreuth zu Migrationsbewegungen und Grenzräumen in Afrika forscht. Die meisten Migranten innerhalb Westafrikas haben heute weder in ihren Herkunfts- noch in ihren Zielländern einen klaren, international anerkannten Rechtsstatus, der ihnen einen legalen Zugang zu Reisedokumenten ermöglichen würde. Machtinteressen der politischen Eliten führen dazu, dass sich dieser Zustand verfestigt. Während die Herrschenden die Migranten als Wähler an sich binden, schwächen sie gleichzeitig ihre Rechte auf internationale Freizügigkeit.