Ob Geburtenregistrierung, Kontakte zwischen Bürgern und Behörden oder Grenzkontrollen: Identitätsfeststellung und -nachweis sind dabei, digital zu werden. Welche Veränderungen dies zum Beispiel für das Verhältnis zwischen Staat und Bürgerinnen und Bürgern mit sich bringt, untersucht Prof. Dr. Stephan Scheel von der Leuphana Universität Lüneburg in seinem Forschungsprojekt “Doing Digital Identities”. Das Projekt, das gerade begonnen hat und auf fünf Jahre angelegt ist, wird vom Europäischen Forschungsrat (ERC) mit 1,5 Millionen Euro gefördert.
Bislang wurden die Auswirkungen digitaler Ausweisgeräte vor allem in Bezug auf kriminelle Verdächtige und Einwanderer untersucht, nicht aber mit Blick auf die Mehrheit der Bevölkerung. Für sein Projekt will Scheel den aktuellen Moment der digitalen Transformation nutzen, um zu erforschen, wie sich die politische Institution der Staatsbürgerschaft im digitalen Zeitalter umgestaltet und wie sich das Verhältnis zwischen Bürgern und staatlichen Behörden durch die Hinwendung zu digitalen Identifikationsmethoden verändert.
Der Experte für politische Soziologie wird in einer internationalen und fünf nationalen Fallstudien das Design, die Implementierung und die Nutzung von digitalen Ausweisgeräten untersuchen. Neben Deutschland wird sich seine Forschung auf Estland, Indonesien, Malawi und Sierra Leone erstrecken. Jede der Länderfallstudien ist einzigartig und dient dazu, sehr unterschiedliche entwickelte oder sich entwickelnde Systeme und deren Auswirkungen zu untersuchen.
“In diesem Zusammenhang interessiert mich besonders, wie digitale Ausweisgeräte die gelebte Erfahrung der Staatsbürgerschaft verändern”, erklärt Scheel. Dabei geht es um Staatsbürgerschaft als Rechtsstatus und formale Beziehung zum Staat, aber auch um eine Form der Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft und die Möglichkeit, soziale und politische Rechte geltend zu machen.
Quelle: Will ID cards be digital only in the future?
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Ein Team aus fünf Forschenden (neben dem PI, 2 Post-Docs und 2 Promovierenden) wird sich mit diesen Fragen durch gemeinschaftliche Forschung an mehreren Standorten in fünf nationalen und einer internationalen Fallstudie beschäftigen. Jede der fünf Länderfallstudien ist einzigartig, aber auch bezeichnend für bestimmte größere Entwicklungen und Transformationen in Bezug auf die Digitalisierung der statistischen Identifikationspraktiken.
Estland: Das baltische Land wird oft als Vorbild in Sachen digitale Identität und E-Government genannt. Heute nutzen zwei Drittel der estnischen Bürger*innen regelmäßig ihre eID-Karten für den Zugang zu mehr als 2000 elektronischen Behördendiensten, und die Regierung initiiert laufend neue Projekte zur Verbesserung und Weiterentwicklung der estnischen eID-Infrastruktur, um Estlands Status als unangefochtener Vorreiter im Bereich der digitalen Identität zu erhalten. Estlands einzigartiges “e-Residency”-Programm macht sogar eine Reihe von staatlichen Dienstleistungen für Nicht-Staatsbürger*innen zugänglich. Das Nordische Institut für Interoperabilitätslösungen (NIIS) entwickelt Estlands “X-road”-System zu einer grenzüberschreitenden E-Government-Infrastruktur mit Finnland und anderen EU-Mitgliedstaaten, die sich zu einer Blaupause für ein europäisches Digtial-ID-Ökosystem entwickeln könnte.
Deutschland: Als “wirtschaftliches Kraftzentrum Europas” fördert Deutschland EU-Standards für digitale Identitäten, um den “digitalen Binnenmarkt” zu verwirklichen. Im Inland versucht die Regierung – manchmal gegen den Widerstand zivilgesellschaftlicher Akteure – die Nutzung von E-Government-Diensten zu erhöhen, zum Beispiel durch eine App, die die Funktionen des elektronischen Personalausweises auf mobilen Geräten verfügbar macht. In ihrem Projekt IDunion entwickelt die Bundesdruckerei in Zusammenarbeit mit 12 privaten Akteuren Blockchain-gesicherte digitale Ausweisbriefe. Die Bundespolizei wiederum wirbt mit ihrem Projekt EasyPass als europäische Lösung für automatisierte Grenzkontrollen, während der Bundesbeauftragte für Informationstechnik ein Programm leitet, das ein “europäisches Ökosystem für digitale Identitäten” entwickeln soll.
Indonesien: In Asien gehört Indonesien zu den frühen Anwendern digitaler ID-Geräte, die die Transaktionen zwischen Bürger*innen und Staat in einem geografisch komplexen Umfeld verbessern. So hat die indonesische Behörde für Bevölkerung und Zivilregistrierung bereits 2011 damit begonnen, ihren Bürger*innen biometrische eID-Karten mit Chip auszuhändigen. Bis heute bemüht sie sich um eine vollständige Abdeckung ihres eID-Kartensystems, das auch eine Schlüsselrolle bei den ehrgeizigen Plänen zur Harmonisierung des fragmentierten indonesischen ID-Programms spielt. In der Zwischenzeit führt das National Team for Accelerated Poverty Reduction (TNP2K) Pilotprojekte durch, um den Zugang zu lebenswichtigen Sozialleistungen in abgelegenen Gebieten durch digitale ID-Geräte wie Gesichtserkennung und digitale ID-Brieftaschen zu verbessern.
Malawi: Unter der Leitung des UNDP und mit Unterstützung der ID4D-Initiative der Weltbank gelang es der malawischen Regierung 2017, 9 Millionen Menschen in der Rekordzeit von 180 Tagen biometrisch zu registrieren und 2018 die gleiche Anzahl nationaler ID-Karten auszustellen. Das als Erfolgsgeschichte gefeierte ehrgeizige Registrierungs- und Identifizierungssystem des Landes wird vom neu gegründeten National Registration Bureau (NRB) überwacht. Seit seinem Bestehen führen eine Reihe privater Akteure und Entwicklungsorganisationen wie Banken, die Nichtregierungsorganisation GiveDirectly oder UNICEF Programme durch, die auf dem neuen zentralisierten zivilen Registrierungssystem des Landes aufbauen. Das Innenministerium von Malawi wiederum versucht, die neuen biometrischen Ausweise für den Aufbau einer digitalen Grenzverwaltungslösung zu mobilisieren.
Sierra Leone: ist ein wichtiges Zielland der ID4D-Initiative der Weltbank in Westafrika (Weltbank 2016a). Mit Unterstützung der ID4D-Initiative hat die National Civil Registration Authority (NCRA) des Landes ein nationales eID-Kartenprogramm eingeführt, das multimodale biometrische Daten mit einer eindeutigen nationalen Identitätsnummer (NIN) verknüpft. Es bildet die Grundlage für die Pläne der Direktion für Wissenschaft, Technologie und Innovation (DISTI) zur Integration von Datensätzen aus verschiedenen staatlichen Informationssystemen, einschließlich Wahl-, Steuer- und Sozialdienstregistern. Die Einführung des eID-Card-Programms ist im Gange, und die Regierung strebt bis 2025 einen Abdeckungsgrad von 90 % an. Das eID-Card-Programm soll den Bürgern auch Freizügigkeit und Zugang zu staatlichen Dienstleistungen in den 15 Mitgliedsstaaten der Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (ECOWAS) ermöglichen. Darüber hinaus versucht das NCRA durch kontinuierliche Bemühungen der NRO Plan International, die Geburtenregistrierungsrate in abgelegenen ländlichen Gebieten mit Hilfe digitaler Mobilgeräte zu erhöhen.