Von Ralf Keuper

Die deutsche Industrie steht vor der Herausforderung, ihre Stellung in der Plattformökonomie zu behaupten. Zwischen die Kunden und die Hersteller haben sich in den letzten Jahren Plattformen wie Amazon und Alibaba geschoben, die, nachdem sie im B2C-Sektor, wie im Buchhandel, eine dominante Marktstellung erreicht haben, nun das B2B-Geschäft, eine Domäne der deutschen Industrie, ins Visier nehmen. Die Anzeichen verdichten sich, dass wir im Investitionsgüterbereich eine ähnliche Entwicklung sehen werden, wie zuvor im Geschäft mit Konsumgütern. Kommt das Amazon für Investitionsgüter aus Deutschland?

Forschungsstandort Lemgo als Treiber von Industrie 4.0

Im Gespräch geht Jürgen Jasperneite (Foto), Professor für Computernetze an der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe und Leiter des dortigen Fraunhofer IOSB-INA, auf die Situation der intelligenten automatisierten Produktion in Deutschland, mit besonderer Berücksichtigung von OWL, ein.

Prof. Dr. Jürgen Jasperneite

Ziel von Industrie 4.0., der vernetzten und automatisierten Produktion über Unternehmensgrenzen hinweg, ist es unter anderem, Produkte, die nach den Wünschen des Kunden hergestellt werden, zu den gleichen Kosten produzieren zu können wie die Produkte aus der Massenfertigung. Im Idealfall macht es also keinen Unterschied, ob das Produkt aus einem Großbetrieb oder einer Manufaktur stammt. Beim Sportartikelhersteller Nike können die Kunden bereits seit Jahren ihre Sportschuhe den eigenen Wünschen nach konfigurieren. Im Investitionsgüterbereich dagegen müssen auf dem Weg dorthin noch einige Hindernisse überwunden werden. Wenn Unternehmenskunden die gleiche User Experience beim Kauf einer Industriellen Stromversorgung erwarten wie bei der Online-Bestellung eines Sportschuhs, dann müssen zuvor die Preisfindungs- und Logistikprozesse automatisiert und aufeinander abgestimmt werden.

Lückenhafte Prozesse verhindern noch die Mass Customization in der Produktion 

Um beim Beispiel Industrielle Stromversorgung zu bleiben – einem Produkt, wie es für die Ausrüster in OWL typisch ist. Der Kunde konfiguriert online das Netzteil. Dabei wird zunächst geprüft, ob die gewünschte Konfiguration realisierbar und lieferbar ist. Ist das der Fall, wird ihm der entsprechende Preis angezeigt. Nachdem der Kunde die Bestellung aufgegeben hat, kann er den Produktionsstatus und den Sendungsverlauf in Echtzeit verfolgen. So oder so ähnlich könnten sich die Merkmale eines Industrie 4.0-Bestellvorgangs beschreiben lassen. Nicht alle Unternehmen sind jedoch bereit, ihre internen Prozesse so weit offen zu legen, könnten auf diese Weise auch Mitbewerber relativ tiefe Einblicke in das Unternehmen bekommen. Ebenso widerstrebt es vielen Unternehmen, dass die Kunden Einfluss auf die Produktion nehmen. Noch ist der Anteil individueller Produkte im Investitionsgüterbereich mit ca. 10 Prozent gering. Fast neunzig Prozent aller individuellen Produkte entfallen auf den Konsumgüterbereich. Dennoch wäre es naiv anzunehmen, dass sich der Investitionsgüterbereich dem Trend hin zur Mass Customization auf Dauer entziehen kann. Noch fehlt, wie bereits erwähnt, die durchgängige IT-Unterstützung der kundennahen Prozesse. Zwar setzen die meisten Unternehmen bereits ERP-Systeme ein und verfügen über Web Shops; sobald der Auftrag jedoch im Vertrieb landet, werden die Aufträge in den meisten Fällen noch papierbasiert und händisch weiterbearbeitet, u.a. für Kalkulationszwecke. Ebenfalls hapert es an der richtigen User Experience, wie die Kunden sie von Amazon und Apple bereits gewohnt sind.

Bereits in den 1990er Jahren wagte James Brian Quinn in „Intelligent Enterprise“ die Aussage, dass die Zukunft den Service-Technologien gehöre. Branchengrenzen würden damit durchlässiger:

Most importantly perhaps, the widespread penetration of service technologies has virtually destroyed the boundaries of all industries. The example of the financial service industry is often cited. But airlines no longer compete just against airlines. They also compete against travel agents, tour groups, retailers, financial service companies, ground transportation providers, communication companies (…).

Vom Lieferanten zum Betreiber – Pragmatismus trifft auf German (Over-)Engineering

Für ein Land wie Deutschland, mit einem starken industriellen Kern und einem Schwerpunkt auf Hardware, ist dieser Wandel besonders herausfordernd. Wenn auch bei den Maschinen der Anteil der Software und Services wächst und sich infolgedessen die Wertschöpfung verschiebt, dann müssen die Unternehmen ihre Geschäftsmodelle und Organisationsstrukturen anpassen. Die Hoffnung, mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz bzw. Maschinellem Lernen würden sich quasi wie von selbst neue Einnahmequellen generieren lassen, scheitert allzu oft an der Realität. Ohne den richtigen Vertrieb, der es versteht, Services statt Hardware zu verkaufen, ohne Anpassungen an den internen Wertschöpfungsketten bleiben die erhofften Mehrerlöse aus. Jasperneite sieht die größte Herausforderung für die Unternehmen in dem Rollenwechsel vom Lieferanten zum Serviceanbieter. Nur wenige Unternehmen aus der Industrie haben es bisher vermocht, diesen Wandel mit Erfolg zu vollziehen. Beispielhaft, so Jasperneite, seien General Electric (GE) Renewable Energy und Rolls-Royce Turbinen. GE Renewable Energy betreibt ganze Windparks. Dabei setzt GE gezielt die Predictive Maintenance ein, um die Windparks (Assets) optimal auszulasten und die Verfügbarkeit zu gewährleisten (Vgl. dazu: Digital Wind Asset Performance Management from GE Renewable Energy). Einen ähnlichen Service bietet Rolls-Royce den Fluggesellschaften an, wie mit dem Engine Health Monitoring für Flugzeug-Turbinen. Weitere Geschäftsmodelle in dem Zusammenhang sind Miles as a Service und Mobility as a Service.  In Zukunft sollen sich die Triebwerke selbst warten können (Vgl. dazu: Wenn Nano-Roboter durchs Triebwerk krabbeln).

Digitale Zwillinge ermöglichen neue, servicebasierte Geschäftsmodelle 

Damit die Windräder und Triebwerke aus der Ferne gewartet werden können, bekommen sie digitale Zwillinge (Digital Twins) an die Seite gestellt. Dabei wird von einem physischen Gegenstand ein digitales Modell erzeugt, das die wesentlichen Eigenschaften (wie geometrische oder funktionale) der Maschine oder Komponente enthält. Um beim zuvor erwähnten Beispiel der Industriellen Stromversorgung zu bleiben: Der digitale Zwilling begleitet das Netzteil von der Wiege bis zur Bahre. Technisches Gerät und Zwilling sind per Datenkopplung (Sensoren, Cloud) miteinander verbunden. Während seiner Nutzungsdauer liefert der Zwilling Informationen, z.B. über Betriebs- oder Wartungszustände. Ein weiterer Vorteil digitaler Zwillinge ist, dass neue Funktionen simuliert und getestet werden können, bevor sie in physischen Maschinen integriert werden. Zurück zur Industriellen Stromversorgung: Diese wird häufig in einen Schaltschrank integriert. Der Schaltschrank besitzt selbst nun wiederum einen Digitalen Zwilling, bestehend aus weiteren digitalen Zwillingen, wie dem für die Stromversorgung. Diese liefert nun Informationen über wichtige Betriebs- oder Wartungszustände und die Einbauposition. Diese Informationen sind wiederum wichtig für die Instandhaltung. Große Teile der Datenverarbeitung werden dezentral, in bzw. an der Maschine, an dem Geräte durchgeführt (Vgl. dazu: Intelligente elektrische Steckverbinder für die dezentrale Datenverarbeitung).

Herausforderung China

Als der Roboterhersteller Kuka vor einigen Jahren in chinesische Hände geriet, war die Bestürzung groß. Die Rede war vom Ausverkauf deutscher “Hidden Champions”. Die Hoffnungen, der Standort Augsburg würde von dem chinesischen Engagement profitierten, haben sich indes zerschlagen (Vgl. dazu: Was planen die Chinesen mit Kuka? & Re: Schluss mit “Made in Germany”? Chinas Run auf den Mittelstand Doku (2017)). Kuka-Eigentümer Midea plant die Produktionskapazitäten in China deutlich auszubauen. Derweil werden in Augsburg Stellen abgebaut. Viele Kommentatoren äußern die Ansicht, dass Kuka die Zukunft ohnehin verschlafen habe. Der plötzliche Abgang des Kuka-Chefs war demnach nicht so spontan, wie in den Medien dargestellt. Die Vermutung liegt nahe, dass Midea ohnehin eher an den Patenten und Lizenzen von Kuka interessiert ist, als an dem Unternehmen selber.

Die chinesische Regierung hat mit Made in China 2025 die Richtung vorgegeben. Ziel ist das Land auf dem Weltmarkt für Hochtechnologien an die Spitze zu bringen. Die Rolle als verlängerte Werkbank will China so schnell wie möglich ablegen. Das bringt es mit sich, dass China seine Abhängigkeit von ausländischen Unternehmen deutlich reduzieren wird. Bis das Land über genügend Know-how verfügt, werden die Dienste deutscher und anderer Unternehmen aus dem Ausland gerne in Anspruch genommen und ihre Präsenz vor Ort wird geduldet. Insofern spielt die Zeit für China.

Auf der Suche nach dem Amazon für Investitionsgüter Made in Germany

Ob das Amazon der Investitionsgüter aus Deutschland oder Europa kommen wird, ist momentan eher unwahrscheinlich, obgleich eine aktuelle Studie hier mehr Zuversicht versprüht (Vgl. dazu: Smarte Regulierung von digitalen Plattformen – Positionspapier). Wenn die Produktion sich in Zukunft nach den Wünschen der Kunden richtet, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich im Industriellen Internet wiederholt, was im kommerziellen Internet eingetreten ist: Die Dominanz einiger weniger Plattformen und Ökosysteme, denen es gelingt, mit der richtigen User Experience die Kundenschnittstelle zu besetzen:

The industrial IoT domain summarizes everything what is outside the classical consumer domain with a strong emphasis on B2B business. In general, there is a convergence of consumer and industrial internet. We see signs of “consumerization”, for instance, in the home market through the appearance of voice control appliances like Amazon’s Alexa or Apples Homepad. Also, it is typically the case in the automotive industry in which consumer and industrial platforms are merging the concept of connected and automated driving (…) (in: Cognitive Hyperconnected Digital Transformation. Internet of Things Intelligence Evolution)

Insofern ist es zu wünschen, dass die Anwendungsforschung hierzulande, wie sie auf dem Innovation Campus Lemgo am Fraunhofer IOSB-INA, an der SmartFactoryOWL und am Centrum Industrial IT auf vorbildliche Weise erfolgt, Impulse gibt, wie wir ein Amazon für Investitionsgüter Made in Germany an den Start bringen können.

Crosspost von Westfalenlob