Was die datengetriebene Wertschöpfung betrifft, hinkt die deutsche Wirtschaft der Entwicklung hinterher. Mittlerweile nehmen Amazon & Co. auch die Domäne der deutschen Wirtschaft, die Industrie wie überhaupt das B2B-Geschäft, ins Visier. Welche Chancen bleiben der deutschen Wirtschaft noch und wie können die KI und Technologieförderung dazu beitragen, die Wertschöpfung im Land zu behalten – diese Fragen beantwortet Dr. Georg Wittenburg (Foto), Gründer und CEO von Inspirient, im Gespräch mit Identity Economy.

  • Herr Dr. Wittenburg, was hat Sie zur Gründung von Inspirient veranlasst; welche Erfahrungen bringen Sie mit?

„Software is eating the world“, schrieb Mark Andreessen 2011. Aus

Dr. Georg Wittenburg, Gründer und CEO der Inspirient GmbH

deutscher Sicht müsste man heutzutage ergänzen: “…and digital platforms are eating the economy!“ Das Automatisierungs- und Konsolidierungspotential, das Algorithmen und digitale Plattformen mit sich bringen habe ich – auch vor meinem Forschungshintergrund in der Informatik – während meiner Zeit bei der Boston Consulting Group und dem BCG Henderson Institute erleben dürfen. Die Inspirient GmbH ist eines jener Unternehmen, die eine bisher allein dem Menschen zugeschriebene Fertigkeit automatisiert: die Auswertung von geschäftlichen Daten, von den Rohdaten direkt zur Management-Präsentation.

  • Laut Wolfgang Wahlster ist die Verwertung der Maschinen- und Industriedaten die letzte Chance für Deutschland, um den Anschluss in der Daten- und Plattformökonomie nicht zu verlieren – ist die Lage wirklich so ernst?

Allzu kritischen Antworten auf diese Frage kann leicht Schwarzmalerei oder „German Angst“ unterstellt werden. Tatsächlich halte ich die Entwicklung aber für noch besorgniserregender als allgemein dargestellt, insbesondere wenn man ihre Dynamic betrachtet. Eine Verwertung von Maschinen- und Industriedaten wird inzwischen als Dienstleistung auf Amazon Web Services angeboten, inkl. eigener Sensoren. Dies von einer Firma, die noch keine 30 Jahre alt ist und bisher keine tiefe Industrieexpertise besaß. Um dies vergleichbar zu machen, müsste man sich vorstellen, dass beispielsweise Siemens in den letzten 15 Jahren einen Cloud-Computing-Arm aufgebaut hätte oder die Telekom einen weltweiten Online-Marktplatz inkl. Logistik betreiben würde. Kurz gesagt: Wer jetzt hierzulande noch Projektanträge zu Industrie 4.0 schreibt, hat schlicht den Zug verpasst. Man übersieht in Deutschland schlicht viel zu häufig, dass losgelöst von all den notwendigen Debatten über Rahmenbedingungen am Ende auch Produkte und Dienstleistungen rechtzeitig auf den Markt kommen müssen.

  • Worauf führen Sie den Erfolg der US-amerikanischen Technologiekonzerne in der Plattformökonomie zurück – welche Rolle spielt die Forschung – insbesondere im Bereich KI – dabei?

Einerseits gibt es die offensichtlichen Standortfaktoren vom US-amerikanischen Markt: ein großer sprachlich homogener Binnenmarkt mit geringen Markteintrittsbarrieren (Stichwort: Datenschutz). Beides haben wir in Deutschland und Europa nicht. Man könnte diese strukturellen Nachteile nun versuchen zu kompensieren z.B. durch einen hocheffizienten Technologietransfer von der Forschung hin zur weltweiten Vermarktung von Produkten und Dienstleistungen. Aber das tut man nicht. Man könnte die Entwicklung von Plattformen durch eine gezielte Nachfrage der öffentlichen Hand forcieren. Aber die ist in digitalen Fragen eher Getriebener als Treiber (und das Wort „Rüstungsforschung“ – ein Feld aus dem nicht zuletzt das Internet hervorgegangen ist – nimmt niemand in den Mund, der in Deutschland eine Wahl gewinnen will).

Prof. Dr. Otmar Wiestler, der Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft, sagte in einem Vortrag beim Wirtschaftsrat der CDU im Jahr 2018, dass die Schubladen seiner Organisation voller Forschungsergebnisse seien, aber man bei einem Jahresbudget von 4,3 Mrd. Euro einen Technologietransfer nicht leisten könne und jetzt nach Partnern suche. Dieses Statement fasst die Misere gut zusammen. Künstliche Intelligenz ist hierbei bloß das letzte Beispiel – es ist ja nicht so, dass sich in Deutschland florierende Wirtschaftszweige um Magnetschwebebahnen, das MP3-Format oder um Solartechnologie entwickelt hätten (von einem neuen Automobilkonzern oder einer privaten Raumfahrtbranche ganz zu schweigen).

  • Was können Deutschland und Europa daraus lernen?

Der Schlüssel zu einer nachhaltigen, international wettbewerbsfähigen Wirtschaft ergibt sich aus dem erfolgreichen Technologietransfer in wettbewerbsfähige digitale Produkte und Dienstleistungen, die rechtzeitig am Markt eingeführt werden. Wer eigene Minimalstandards und Wertvorstellungen etablieren möchte, ohne durch eigene Produkte den Markt zu gestalten, wird von der Macht des Faktischen überrollt.

Wesentlicher Baustein hierfür könnte es sein, den Technologietransfer von Personen zu entkoppeln: Der Mechanismus der Ausgründung aus der Forschung ist stets an die Ressource ‚Gründer‘ gebunden und folglich zwingend nicht skalierbar (und auch nicht effizient, da viele akademische Gründer de-facto keine Vorerfahrung mitbringen). Wir brauchen zehn Rocket Internets für High-Tech-Startups (statt für Marktplätze) mit 1-2 jähriger R&D-Zeit, aber danach vergleichbarem Erfolgsdruck. Alternativ gerne auch zehn High-Tech Gründerfonds jeweils mit eigener Personal-Pipeline für kommerzielle Geschäftsführer (bestenfalls direkt aus dem mittleren Management von DAX-Konzernen heraus, ggf. versüßt durch eine Rückkehrregelung).

  • Wie kann die deutsche Industrie ihren größten Schatz – das domänenspezifische Wissen – durch den Tausch von Daten und KI-Modellen nutzen, ohne dabei ihren Wettbewerbsvorsprung einzubüßen?

In Bezug auf Daten-getriebene Wertschöpfung laufen viele deutsche Industrieunternehmen der technischen Entwicklung hinterher. Zu viele Ressourcen sind durch SAP-Updates und Data-Warehouse-Initiativen gebunden, aktuelle Themen wie KI werden vielerorts folglich nur explorativ betrachtet. Die technische Entwicklung ist schlicht schneller, als sie von so manchen Organisationen absorbiert werden kann.

Der erste Schritt zur Verwertung des Wissens- und Datenschatzes muss eine Erhöhung der Schlagzahl bei Innovationsprojekten sein: Kürzere Vorlaufzeiten, schnellere Proof-of-Concepts, „Umkehr der Beweislast“ bei der anschließenden Umsetzung (warum sollte man etwas nicht machen?). Wiederkehrende Bedenken (Datenschutz, Budgetverantwortlichkeiten, Mitspracherechte, Sicherung von Arbeitsplätzen) sind durch entsprechende Rahmenvereinbarung einmal grundsätzlich zu lösen, statt jedes einzelne Innovationsprojekt damit auszubremsen.

  • Wie lässt sich das Vertrauen der Unternehmen in KI-Applikationen Dritter herstellen?

Das Sprechen derselben Sprache hilft. Ebenso wenn beide Partner im selben (nationalen) Rechtssystem verortet sind und sich bei Vorbesprechung und Vertragsabschluss in die Augen schauen können. Tatsächlich war in unserem operativen Geschäft das Vertrauen in unsere KI-Plattform konkret nie das Problem, und in vielen Fällen ging die von der KI erstellte Dokumentation über das hinaus, wie menschliche Mitarbeiter ihre Tätigkeiten und Entscheidungen aktuell dokumentieren. Aus Wirtschaftsprüfersicht wurde unsere KI als prüfungssicher eingestuft. Insgesamt muss man also festhalten, dass das Vertrauen in eine KI operativ weniger ein Problem ist, als es die großen Debatten anmuten lassen. Dies hat das Thema Vertrauen übrigens mit den Themen Datenqualität und -schutz gemein.