Die Zukunft des Reisens beginnt in Paris: Wie Europa den digitalen Pass neu erfindet
Über 110 Organisationen aus 15 Ländern arbeiten daran, das Reisen mit einem einzigen digitalen Ausweis zu revolutionieren – ohne Papierdokumente, ohne endlose Warteschlangen, ohne Grenzen.
Es ist eine Vision, die so selbstverständlich klingt, wie sie komplex ist: Ein europäischer Bürger bucht einen Flug nach Barcelona, checkt digital ein, passiert die Grenzkontrolle mit einem Fingertipp, holt seinen Mietwagen ab und checkt ins Hotel ein – alles mit einem einzigen digitalen Nachweis auf dem Smartphone. Keine ausgedruckten Boardingpasses, keine Fotokopien des Reisepasses, keine nervösen Momente am Gate, wenn man feststellt, dass das Dokument zu Hause liegt. Was nach Science-Fiction klingt, könnte schon in wenigen Jahren europäische Realität werden.
In Paris wurde kürzlich der Startschuss für “Aptitude” gegeben, ein Mammutprojekt, das die Art und Weise, wie wir uns in Europa bewegen und identifizieren, fundamental verändern könnte[1]Signicat, SITA and Indicio to test digital travel credentials as part of new EUDI Wallet pilot. Der vollständige Name – Advanced Project for Trusted Identity Technologies and Unified Digital Ecosystem – deutet bereits die Ambition an: Es geht um nicht weniger als die Schaffung eines einheitlichen digitalen Identitätsraums, in dem nationale Grenzen für digitale Nachweise keine Rolle mehr spielen.
Ein Kontinent, eine Identität, unzählige Möglichkeiten
Die Dimensionen des Projekts sind beeindruckend. Über 110 Organisationen aus mehr als 15 europäischen Ländern haben sich zusammengeschlossen, koordiniert von Frankreichs Nationaler Agentur für Sichere Dokumente (ANTS). Mit einem Budget von 20,3 Millionen Euro und einer Laufzeit von zwei Jahren entsteht hier ein Testlabor für die digitale Zukunft Europas. Im Zentrum steht die Europäische Digitale Identitäts-Wallet (EUDI-Wallet) – ein digitaler Ausweis, der alle bisherigen physischen Dokumente ersetzen könnte.
Was Aptitude von früheren Digitalisierungsinitiativen unterscheidet, ist der ganzheitliche Ansatz. Es geht nicht nur darum, einen Reisepass zu digitalisieren. Das Konsortium denkt Identität neu: als modulares, wiederverwendbares und grenzübergreifendes Konzept. Signicat, ein führendes Unternehmen für digitale Identitätslösungen, bringt seine Expertise ein – verstärkt durch die Übernahme von Inverid, einem Spezialisten für Dokumentenverifizierung. Gemeinsam mit SITA, dem IT-Rückgrat der globalen Luftfahrtindustrie, und Indicio, einem Pionier im Bereich dezentraler Identitäten, entsteht eine Infrastruktur, die Airlines, Flughäfen, Grenzkontrollen und Zahlungsplattformen nahtlos verbindet.
Standards als Fundament der Revolution
Die technische Basis für diese Vision bilden internationale Standards: die ICAO Digital Travel Credential (DTC) der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation und ISO PhotoID. Diese Normierung ist entscheidend, denn sie garantiert, dass ein in Deutschland ausgestellter digitaler Reiseausweis in Griechenland, Portugal oder Schweden genauso akzeptiert wird wie zu Hause. Die Herausforderung liegt nicht nur in der Technologie selbst, sondern in der Orchestrierung unterschiedlicher nationaler Systeme, Datenschutzregime und Sicherheitsstandards zu einem harmonischen Ganzen.
Aptitude testet dabei nicht nur digitale Reiseausweise. Das Projekt umfasst ein breites Spektrum von Anwendungsfällen: Mobile Vehicle Registration Certificates (mVRC) sollen die Fahrzeugzulassung digitalisieren, Strong Customer Authentication (SCA) macht Online-Zahlungen sicherer, und Smart Ticketing revolutioniert die Mobilität im öffentlichen Nahverkehr. Jeder dieser Bereiche repräsentiert einen Lebensbereich, in dem europäische Bürger künftig von nahtloser, grenzüberschreitender Interoperabilität profitieren könnten.
Vom Piloten zur Praxis
Das Projekt baut auf den Erkenntnissen früherer Initiativen wie EWC und NOBID auf, die bereits erfolgreich digitale Reise- und Zahlungslösungen getestet haben. Diese iterative Entwicklung ist wichtig: Digitale Identität ist kein Produkt, das man über Nacht einführen kann. Es braucht Vertrauen – von Bürgern, Unternehmen und Behörden gleichermaßen. Jeder Pilot, jeder Test, jede erfolgreiche Anwendung trägt dazu bei, dieses Vertrauen aufzubauen.
Die Vision hinter Aptitude geht über technische Effizienz hinaus. Es ist ein Bekenntnis zu einem Europa, in dem digitale Souveränität und Datenschutz Hand in Hand gehen mit Benutzerfreundlichkeit und Innovation. In einer Welt, in der amerikanische und chinesische Tech-Giganten oft die Standards setzen, positioniert sich Europa hier als Kontinent, der eigene Wege geht – Wege, die Privatsphäre nicht als Hindernis, sondern als Grundrecht begreifen.
Die Reise hat begonnen
Wenn Aptitude erfolgreich ist, wird das Reisen in Europa so selbstverständlich digital wie heute das Bezahlen mit der Kreditkarte. Die Warteschlangen an Grenzübergängen könnten der Vergangenheit angehören, die Stapel von ausgedruckten Dokumenten ebenso. Stattdessen: reibungslose Abläufe, bei denen Identitäten sicher verifiziert und Daten nur dann geteilt werden, wenn es nötig ist und der Nutzer zustimmt.
Das eigentliche Versprechen von Aptitude liegt jedoch tiefer. Es ist das Versprechen eines Europas, das zusammenwächst – nicht durch Zwang, sondern durch gemeinsame Standards, geteilte Infrastrukturen und das Vertrauen, dass ein in einem Land ausgestellter Nachweis überall auf dem Kontinent genauso gültig ist wie zu Hause. In einer Zeit, in der Europa oft mit Fragmentierung und nationalen Alleingängen ringt, könnte die digitale Identität zu einem unerwarteten Katalysator der Integration werden.
References
