Die Digitalisierung des Gesundheitswesens verspricht Effizienz und Patientenorientierung. Doch während EU-Wallet und European Health Data Space noch in den Kinderschuhen stecken, bauen VC-finanzierte Intermediäre bereits ihre Infrastrukturpositionen aus. Die eigentliche Weichenstellung zwischen öffentlicher Governance und privatwirtschaftlicher Plattformlogik findet jetzt statt.


Der Befund

Die technische Ausgangslage im deutschen Gesundheitswesen ist ernüchternd. Praxisverwaltungssysteme basieren vielfach auf Altlasten wie dBASE, proprietären Dialekten und kaum dokumentierten Legacy-Konstrukten. Die Telematikinfrastruktur existiert, bleibt aber für viele Anwendungen sperrig. In diese fragmentierte Landschaft drängen Unternehmen wie Nelly, die sich bewusst nicht als Ersatz für bestehende Systeme positionieren, sondern als Automatisierungsschicht darüber. Der Ansatz ist rational: Statt ein weiteres Praxisverwaltungssystem zu entwickeln, werden Aufnahme, Einwilligungen, Kommunikation und Zahlungsströme um die bestehenden Systeme herum automatisiert.

Das Geschäftsmodell kombiniert dabei Software-Automatisierung mit klassischem Factoring im Gesundheitsbereich. Zielkundschaft sind vor allem Zahnarztpraxen mit hohem Selbstzahleranteil, was ein vertriebsintensives Modell mit entsprechend höheren Erlösen pro Praxis trägt.

Die Governance-Frage

Was auf den ersten Blick als reine Effizienzsteigerung erscheint, wirft strukturelle Fragen auf. Wer die administrativen Prozesse kontrolliert – Onboarding, Dokumentation, Einwilligungen, Zahlungsströme –, baut mittelfristig eine infrastrukturelle Gatekeeper-Position auf. Das gilt auch dann, wenn man sich offiziell nur als zusätzliche Schicht um Praxisverwaltungssystem und Telematikinfrastruktur definiert.

Gerade im Dentalbereich mit hohem Selbstzahleranteil entsteht dabei ein wertvoller Datensatz: Leistungsinhalte, Zahlungsfähigkeit, Zahlungswilligkeit, Mahnverläufe. Das Spannungsfeld zwischen Datenschutz-Rhetorik und ökonomischer Verwertungslogik ist real. Die Nutzung von Gesundheitsdaten für Bonitätsscoring wäre rechtlich hochproblematisch, doch über Umwegdaten wie Zahlungsverhalten, Ratenzahlungsmodelle oder No-Show-Muster lassen sich entsprechende Risikomodelle aufbauen, ohne formell gegen Datenschutzrecht zu verstoßen.

Zwei Zukünfte

Für das Jahr 2030 lassen sich zwei plausible Entwicklungspfade skizzieren.

Im ersten Szenario greifen EU Digital Identity Wallet und European Health Data Space ernsthaft. Patienten identifizieren sich mit einer staatlich regulierten Wallet, Versichertenstatus und Rollenattribute kommen als verifizierte Attestations. Die Praxissoftware greift über standardisierte Schnittstellen auf eine interoperable elektronische Patientenakte zu. Die Abrechnung läu…